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Sonntag, 12. Juni 2011

History Blog #10

Die Reihe "History Blog" besteht aus Kopien aus meinem eigentlichen und aktuellen Blog, in dem ich alles raus lasse. Die Blogs, die von dort hier herüber wandern, drehen sich ausschließlich im weitesten Sinne um das Studium und sollen einen Einblick auf mein Leben bis zum Studienabschluss an der Hochschule Darmstadt vermitteln.

Bis ich die Gegenwart erreiche wird hier täglich ein History Blogs neu veröffentlicht.


Erstveröffentlichung: Freitag, 12. September 2008 - 00:38



Ursprünglicher Blogtitel: "And the story ends...



Ich fahre mit dem Wagen vor und platziere ihn nahe der Eingangstür um es auf dem Weg nach draußen nicht allzu weit zu haben. Der Verstärker wiegt keine Tonnen, nachdem ich ihn aber vier Stockwerke die Treppen herunter geschleppt haben werde muss ich es mir allerdings nicht unnötig schwer machen.

Der altbekannte Griff zum Türknauf erinnert ein wenig an die Tastenkombination Alt-F4, einfach weil man diesen wohl auch im Schlaf beherrscht und sich dran gewöhnt. Mittelfinger links, Zeigefinger rechts neben den Knauf, Handgelenk komplett anwinkeln und den Daumen ausstrecken bis er den Taster links am Rahmen betätigt, welcher den Summer aktiviert und den Schließmechanismus frei gibt.

Links die fünf Holzstufen auf dem Absatz hinauf, wie allerdings zu erwarten war hat er erste Blick beim Eintreten bereits offenbart, dass der Fahrstuhl nicht auf diesem Stockwerk ist. Die rote Lampe ist erloschen, was bedeutet, dass ausnahmsweise die Flügeltüren dieses abenteuerlichen Gefährtes geschlossen sind, was äußerst selten vorkommt, da ich allerdings keinen Fahrstuhlschlüssel besitze kann ich ihn nicht rufen.

Wie gewohnt.

Ich steige die Stockwerke hinauf, das Treppenhaus des Gebäudes wirkt nicht wie eine ehemalige Gummiwarenfabrik sondern mehr wie das eines Abrisshauses in der dresdener Innenstadt nach den Luftangriffen im zweiten Weltkrieg. Die kleinen Fenster in ihren bröckelnden Rahmen sind teilweise von euphorisch Angetrunkenen eingetreten worden und fehlen entweder ersatzlos oder die Löcher wurden mit Faserklebeband und Plastikfolie geschlossen.

Ich kann verstehen, dass es keinen Sinn macht größere Reparaturen vorzunehmen, schließlich kommen immer wieder einige unkluge Kerls des Weges, die nicht kapieren, dass auch sie für die Nutzung hier verantwortlich sind.

Der Putz bröckelt von den Wänden und das, was noch davon übrig ist hat seit Jahrhunderten keine Wandfarbe mehr gesehen.

Dafür Sprühdosen und Eddings.

Bereits im ersten Stock steht ein Herr, den ich auf knapp 40 Jahre schätze, gerade aus einer Tür herausgetreten, die er hinter sich sorgfältig wieder verschließt, die mir allerdings in den letzten 4 Jahren noch nie aufgefallen ist.

Er ist klein und rundlich, und hat selbstverständlich um elf Uhr morgens bereits eine Flasche Bier unter dem Arm.

Ich kann ihn keiner der hier vertretenen mir bekannten Gruppen zuordnen: wie ein Kiffer sieht er nicht aus und musikalische oder anders künstlerische Wurzeln sprießen auch nicht aus seinem optischen Eindruck.

Allerdings erwiedert er meinen Gruß, somit soll es mir auch egal sein.

Ich habe davon gehört, dass in diesem Gebäude nicht nur Proberäume und Atiliers vorzufinden sind sondern auch etwas, das manche Menschen leichtfertig als "Wohnung" bezeichnen. Ich kann es mir nicht vorstellen hier ein gemütliches Heim entstehen zu lassen, aber es gibt durchaus Einrichtungskünstler, die dazu in der Lage scheinen.

Ich lasse diesen Treppenabsatz hinter mir und steige die nächste Treppe hinauf. Glücklicherweise ist es eine Tageszeit zu der durch die Fenster Licht ins Gebäude fällt, da die sporadisch montierten Lampen und Lämpchen in den meisten Fällen ebenfalls defekt oder unzureichend sind.

Wie jedes mal begehe ich den Fehler bei dem Schwung um 180° das Geländer zu ergreifen und nehme mir vor als erstes nach der Ankunft zuhause die Hände so gründlich zu waschen, dass die obersten zwei Hautschichten restlos aus meinen Handflächen beseitigt werden.

Man gewöhnt sich dran, so schlimm ist der Ekel nicht.

Ich steige die Stufen im niedrigen Treppenhaus weiter hinauf zum nächsten Absatz auf dem die Fenster ein annähernd identisches Bild bieten wie im vorhergehenden Stockwerk. Betonfußboden und pekiger, nackter Putz perfektionieren das Bild eines Schnäppchenkaufs der das Gebäude einst vor dem Abriss rettete.

Ich beschwerte mich allerdings nie wirklich. Sicher fiel das eine oder andere angewiderte Wort, zumeist allerdings humoristisch angehaucht, schließlich hat nicht nur unser Proberaum hier eine annehmbare Verkehrslage, sondern ebenso Strom, ein Fenster und vergleichsweise günstig ist er noch dazu.

Alles Dinge, die man von Gebäuden und Hallen, die noch in Betrieb sind nicht unbedingt behaupten kann.

Ich strebe auf die letzten Stufen zu, wende mich um und bin gespannt welcher Blick sich mir beim erreichen des obersten Stocks bietet. Der Flur ist recht schmal, hat aber einige kleinere Vorräume vor den einzelnen Türen an denen sich so dies und jenes ausgemustertes Möbelstück sammelt, manchmal auch eine zertretene Gitarre, wobei es mir noch immer schleierhaft ist wie man mutwillig Instrumente zerstören kann.

Abgesehen von Ziehharmonikas, hierbei unterstütze ich das in den meisten Fällen.

Bei den meisten Keyboards von Alleinunterhaltern steh ich dabei sogar gern für den Fronteinsatz bereit.

Ich erreiche den obersten Treppenabsatz. Im Fahrstuhl, der sich einige Winkel weiter verbirgt steht neben dem Knopf für dieses Stockwerk mit Edding der Schriftzug "kurz davor". Es gibt noch einen höher gelegenen Halt des Fahrstuhls, neben dessen Knopf "Himmel" zu lesen ist. Allerdings ist dort keine begehbare Etage mehr zu finden, nur der Ausblick auf ein Schlacht- und Trümmerfeld, welches schwer zu deuten ist.

Unter der beginnenden Dachschräge steht ein teilweise zerbrochenes 19" Rack, das auch bei meinem letzten Besuch auf dieser Etage zu finden war, wenn auch einige Meter weiter vor der Tür eines Proberaums. Zu der Zeit war es auch noch mit einem Zettel beschriftet, der zwei vollkommen verschiedene andschriften aufwies.

Die erste besagte:

"Finger weg!"

Die zweite, unleserlicher aber ausdrucksfähiger:

"Beseitigen, sonst weg!"

Dieser Zettel fehlt mittlerweile, eine Endlösung scheint dennoch auszustehen.

Ich wende mich links in den Gang, der normalerweise beleuchtet ist, heute ist er allerdings finster und endet nach zwanzig Metern in einem schwarzen Loch in dem es einem bei Nacht kalte Angstzustände bereiten würde.

Die WC-Tür zur linken ist geschlossen, daneben gähnen die Fenster der Fahrstuhltüren mit unergründlichem schwarz, zur Rechten eine ausnahmsweise stumme Proberaumtür, ebenso wie gegenüber.

Ein seltenes Geräusch hier.

Stille.

Nicht einmal die Lüftung rummort und rumpelt und täuscht Funktion vor. Das Ungetüm, welches sich links im WC hinter einem Stück Maschendraht befindet weiß wie kein anderes mir bekanntes Gerät Radau zu machen ohne dabei von Nutzen zu sein. Jeder der Proberäume verfügt über einen Auslass, der über 30 cm im Durchmesser starke Rohre mit ihm verbunden ist. Wenn sich das Schreckgespenst der Ingenieurskunst allerdings zu unwirklichem Leben regt bleibt bis auf einen unglaublichen Krach nichts merkbar, kein Luftzug und kein neuer Sauerstoff durchströmt das Loch in der Wand.

Dafür die Klänge aus 3,5 Etagen mit je ca. 10 Proberäumen.

Der Flur beschreibt einen unspektakulären rechts-links-Knick, doch trotz dem möglichen Blickkontakt zum tageslichtbeleuchteten Vorflur scheine ich nun mitten im Dunkel zu stehen.

Hier bin ich nun also.

Allein auf meinem Weg.

Einem Weg, den ich aufgrund der vergangenen zwei Jahre als nicht sonderlich schwer empfinde, allein der Gedanke daran hätte mir wohl aber in der Zeit davor das Herz brechen lassen.

Noch zehn Meter Schwärze und zur rechten Hand wird die Wand liegen auf der mit schwarzem Edding die Buchstaben Q.S.E. zu lesen sind und die von mir im ersten Lehrjahr angebrachte Lampe, die das Finden des Schlüssellochs erleichtern sollte, aufgrund aus Angst des Stromdiebstals aber nur von der Innenseite des Raumes aus einschaltbar ist.

Eingef�gtes Bild
Eingef�gtes Bild

Noch zehn Meter allein in einem Gang, der so still daliegt wie ich mich nicht erinnern kann, dass er jemals war und rechts neben dem Durchgang wird die Metalltür auftauchen auf dessen Mitte ein gelber Aufkleber eines Damen-WCs pappt hinter der sich ein Raum mit Holztäfelung befindet, Teppich aus des Gitarristen Großmütterchens Wohnung, mein altes Schlafsofa und ein säuerlicher Mief, in dem ich unzählige Stunden verbracht habe und mich in eine Realität eingefunden habe, die so selten jemand erleben darf.

Woher dieser Mief kommt ist ein Rätsel, eine Mischung aus dem Duft alten Teppichs, schalem Bier, kaltem Rauch und dem allmählichen Ausgasen der Kondensatoren aus den Leuchtstofflampen, die wir vor einigen Jahren als indirekte Beleuchtung in den vier Ecken des Raumes montiert haben.

Ein Meisterstück der Gemütlichkeit.

Leider führten die Vorschaltgeräte der Lampen zu Störungen unserer Verstärker und wir konnten sie selten nutzen.

Stille.

Dunkelheit.

Ich habe die Uhrzeit nicht nur gewählt, weil ich den späten Vormittag als angenehm empfinde sondern auch, weil um diese Zeit kein Musiker wach sei, wie ich meiner Mutter sagte.

Musiker sind ein seltsames Volk. Entweder sind sie grundsolide, haben korrekte Jobs oder sind Studenten, die den größten Teil ihrer Freizeit opfern und trotzdem ein akzeptables Äußeres und einen angenehmen Wortschatz haben, oder sie sind menschliche Wracks.

Beide Gruppen findet man jedoch nicht vor 15 Uhr in Proberäumen.

Ich setze einen Schritt vor den anderen, kein Gedanke daran, dass ich hier bin um endgültig den Buchrücken eines Romans zuzuklappen, den ich selbst einen Teil meines Lebens schrieb.

Fortsetzungen gibt es immer wieder, diese Geschichte ist nur allerdings fertig erzählt, die Statisten sind lang nach Hause geschickt worden, die Hauptpersonen widmen sich bereits neuen Aufgaben und sind weitergeeilt, jetzt gilt es die Dekorationen von der Bühne zu entfernen.

Noch wenige Schritte und ich werde die Tür öffnen hinter der ein in unseren Augen vielversprechende Band jahrelang probte, sich zoffte und euphorisch neue Ideen verwirklichte, Songs schrieb und spielte, Auftritte plante und auch manches mal im Alkohol- und Nikotindunst versackte und erst am Folgetag die Heimreise antrat.

Wir wurden älter.

Unsere Leben richteten sich in Richtungen aus, die sich beim einen stark entwickelte beim anderen zu erschreckendem Stillstand kam. Fotos aus der Anfangszeit scheinen wie Lachnummern.

Wir waren Kinder, heute sind wir Männer.

Die Erinnerungen an die guten Zeiten nehme ich mit mir, wohin ich auch gehe, den Schmerz habe ich lang zurück gelassen. Bedauern? Vielleicht, allerdings gesundes Bedauern ohne Enttäuschung und Verbitterung.

Meine Schritte werden langsamer und um ein wenig Licht zu haben fingere ich in meiner Tasche nach dem Handy und klappe es auf. Das helle Display Richtung Schlüsselloch gerichtet strebe ich diesem mit dem Schlüsselbund entgegen, doch bevor ich es erreiche scheint sich meine Fantasie einen Streich zu erlauben und ich höre Geräusche.

Ich war immer recht schreckhaft in der Dunkelheit, somit schiebe ich den Gedanken beiseite und bereite mich darauf vor in Kürze in diesem vermieften Proberaum zu stehen und mich im Kreis zu drehen um auch sicher zu sein, dass ich nichts vergessen werde.

Als ich genau darüber nachdachte fiel mir im Vorfeld allerdings nichts ein was mein Besitz sei außer dem Choruspedal, dem Kabel, dem Warwick Verstärker mit seinen 150 Watt und dem schwarzen Career Bass, der mich seit nunmehr 12 Jahren auf all meinen Wegen durch die Bands, Proberäume, Studios und über die Bühnen begleitet.

Ich weiß wo er hängt.

Ich weiß wo die zugehörige Tasche ist.

Ich weiß wo der Verstärker steht und wo das Effektpedal liegt.

Was ich nicht weiß ist, wer der junge Mann ist, der hinter der Tür die Geräusche verursacht hat und im selben Moment, als ich die äußere Tür öffne seinerseits die dahintergelegene Schallschutztür öffnet und mir im Licht des frühen Mittags verschlafen mit einer Rolle Toilettenpapier gegenübersteht um nach einer Nacht auf meinem Sofa, unter Timos Wolldecke, auf Sebastians Kissen, neben Bennys Verstärker, in unserem Proberaum sein morgendliches Geschäft zu verrichten plant.

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