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Freitag, 15. Februar 2013

Die Romantik im Bauingenieurwesen

Gestern abend auf dem Balkon kam mir, nachdem ich etwa zum gefühlten 23.000sten Male auf die gleiche Stelle des Hauses blickte, eine tiefgreifende Erkenntnis.



Klar, diese Stelle ist langweilig, sagt nichts aus, ist nicht einmal schön. Sie ist einfach vorhanden, und doch...

Nach einer Ausbildung irgendwo im Baugewerbe und mittlerweile 4,5 Jahren Studium im Bauingenieurwesen ist es oftmals so, ohne dass es mir direkt auffällt, dass ich ein Bauwerk (und sei es nur wie hier ein simples Mehrfamilienhaus) nicht einfach nur ansehe und denke: "Oh, ein Haus." Oder: "Oh, ein schönes Haus, mir gefällt dies und das." Oder die Negation dessen. Oder aber: "Man, eine hohe Decke hier in der Halle." Oder gar: "Die Hochhausfassade ist komplett aus Glas, das muss bestimmt warm werden im Sommer."

Nein, unterbewusst denke ich (mal von unten nach oben die erwähnten Punkte abgegrast): "Die Hochhausfassade muss aus Mehrscheibensicherheitsglas hergestellt sein. Ob die die Gläser nur aus Standardzulassungen ausgewählt haben? Oder ob sie die extra angefertigen haben und diverse Bruchtests machen ließen. Welche Beschichtung sie wohl gegen die Sonneneinstrahlung gewählt haben... Und wie effizient ist die? Wie zwingend mag wohl die Klimaanlage sein bzw. ist sie in erträglichem Maß nötig oder muss die im Sommer stark ackern, damit das Klima erträglich bleibt, was aber den EnEV-Nachweis irgendwie arg runter reißt."

Oder aber: "Das statische System der Deckenkonstruktion, wie trägt die wohl ab? Man, das sind echt mordsmäßiger Brettschichtholz Binderkonstruktionen. Die Verbindungen sehen gar nicht so massig aus, wie man das denken müsste, aber das liegt wohl am gewählten Lastabtrag, die Pfetten dienen nur der Auflagerung aus der Dachhaut, die steifen ja nichts aus. Dafür haben sie da die Stahlseildiagonalen angeordnet. Ja, tatsächlich wie in der Vorlesung gesagt: praktisch macht man ein Feld am Anfang, eins am Ende, das reicht bis ca. 40 - 60 Meter aus, ohne großartig komplizierte Nachweise." (So geschehen übrigens bei "Dieter Nuhr live in Hanau" Anfang 2011.

 Dieter Nuhr

August-Schärttner-Halle, Hanau

Oder gar: "An dem Haus gefällt mir, wie sie dies und jenes ineinander haben übergehen lassen. Wie wohl die baukonstruktiven Details da aussehen mögen? Wie haben sie die Durchdringung zum Anbau wohl angeschlossen? Und bei den riesigen Fenstern, meine Güte, ob der Wintergarten wirklich unmerklich ans Wohnzimmer anschließt, oder ob die in Sommer und Winter echte Temperaturprobleme haben? Die Abdichtung an der Stelle stell ich mir kompliziert vor. Noch komplizierter wohl die Dämmung. Ob das Dachgeschoss ausgebaut ist, oder ob sich bei der Höhe einfach nur eine Aufdeckendämmung befindet, der Dachraum unbeheizt ist?"

Und der letzte (bzw. oben erste) Punkt?

"Oh, ein Haus"?

Nein.

Wenn ich draußen auf dem Balkon stehe und dorthin sehe, ohne meinen Kopf wirklich einzuschalten (und bitte keine dummen Sprüche deswegen), dann zerfließt in meinem Kopf die Gesamtkonstruktion. Ich sehe die Fußpfette unten aus der Wand ragen und weiß, dass sie zwar durch Gewichts- und Witterungseinflüsse ein wenig tordiert (also verdreht) aussehen mag, das aber vollkommen egal ist im vorliegenden Ausmaß, weil die Auflast des Daches nicht so groß ist, dass sie dem Balken gefährlich werden könnte. "Wieso ist der überhaupt sooo riesig bemessen? Ein solcher Querschnitt hält doch vermutlich das 5-fache von den Einwirkungen aus. Die Wand ist verputzt, was die wohl für einen Putz gewählt haben, ob die richtig das Armierungsgewebe eingefügt haben? Was mag es für eine Wand sein? Wärmedämmziegel oder eher Mauerwerk mit Dämmschicht? Im Norden baut man eher aus Ziegeln mit Wärmedämmschicht drauf, die außen verklinkert werden. Da steht man im Süden nicht so drauf."

In meinem Kopf trägt sich ganz von allein Stück für Stück eine Schicht Ziegel nach der anderen ab, ich sehe die Auflager der Pfette, die Einbindung der Fenster (übrigens: GAAAANZ lausig!), sogar die Durchbohrung für die Außenlampe und wie sich der Dübel im Mauerwerk verhakt hat, unter dem Fenster die Fensterbank, oben drüber natürlich der Rollladenkasten, dann wieder Mauerwerk bis zur Deckenplatte, die Anschlusskonstruktion des Balkons, Aufbaukonstruktion des Bodens drinnen und draußen...

Und ganz automatisch sehen die demontierten Teile in meinem Kopf aus wie Legosteine. Nicht so knallig bunt, auch nicht ganz genauso kantig und präzise, aber doch mit eindeutiger Ähnlichkeit.

Auch, wenn ich das Bauingenieurwesen nur wählte, weil ich Spaß an der Technischen Mechanik in der Fachoberschule hatte und weder in den Maschinenbau, noch jeeemals wieder in die Elektrik wollte... mir stellt sich einfach die Frage, ob ich aufgrund meiner Vorliebe für LEGO (wie schon an vielen Stellen gezeigt) gar keine andere Wahl hatte, als im konstruktiven Ingenieurbau zu landen.

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