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Dienstag, 22. Oktober 2013

Onkel Murph

Tag 1 des Praxismoduls und ich muss sagen, dass bis auf meine Arbeit und das Aufstehen selbst so ziemlich alles schief gegangen ist.

Wecker klingelt um 4:31 Uhr.

Ich latsche in die Küche, wo mich der Kaffee bereits erwartet. Viel zu dünn aber, wie es immer passiert, wenn ich eine ganze Kanne koche.

Die Thermoskanne ist lange nicht benutzt und riecht etwas modrig.

Ich packe die Sachen, erledige noch kurz dringenden Schreibkram und stelle mich unter die Dusche - um die Uhrzeit kommt erst einmal 2 Minuten lang nur eiskaltes Wasser, was ich vergessen hatte.

Ich stehe vor dem Spiegel und versuche einen Menschen aus mir zu machen, der Blick auf die Uhr verrät mir aber, dass ich mich beinahe wieder verkalkuliert habe und in Kauf nehmen sollte, unmenschlich auszusehen.

Habe vergessen den neueren Akku vom Telefon gestern in die Ladestation zu stopfen, der Akku, welcher seine Lebenszeit überschritten hat, ist nach 45 Minuten ohne Ladegerät schon bei nur noch 85 %.

Ich gehe um 5:58 Uhr aus dem Haus, was deutlich reicht. Allerdings hätte ich einen Blick in den Wetterbericht werfen sollen und mir wird sofort klar, dass ich mich mit etwas dickerem Hemd, Sakko und Mantel verschätzt habe. Ich beginne augenblicklich mich unwohl zu fühlen.

In einer Querstraße meine ich den Bus bereits zu hören - unmöglich, es ist erst 6:02 Uhr.

Den Bus sehe ich auf Entfernung abfahren. Anstatt 6:03 Uhr und 7:08 Uhr als Abfahrtszeiten habe ich mir einen Zahlenmix gemerkt und rechnete mit 6:08 Uhr. Da steh ich nun.

Frau und Kind sollten noch schlafen und wenn nicht hätten sie auch nicht die Möglichkeit mich kurzfristig irgendwo hin zu fahren. Zurückgehen und bis 7 Uhr zu warten ist keine Option für mich. Ich entscheide mich für den 3 km kurzen Fußweg übers Feld in die nächstgrößere Stadt mit regelmäßiger Verkehrsanbindung.

Ausgerechnet heute wollte ich nicht mit Rucksack raus (der passt nicht zum Sakko, wie ich meine) und habe daher nur meine Tasche als "Handgepäck". Blöd.

Ich schwitze wie ein Idiot, bereits nach 500 Metern.

Ich will Ausweichverbindungen recherchieren, aber mich blendet das Display so arg, dass ich in der völligen Dunkelheit meine Schuhe in tiefen Matsch platziere, außerdem schrumpft die Akkuleistung bedenklich.

Ich entscheide mich für den Zug, meine Ankunft in der Firma verzögert sich nach Fahrplan um 30 Minuten.

Ich schwitze wie ein Idiot.

Ich komme aus dem Wäldchen heraus und trete auf die Kreuzung an der Bundesstraße. Eine vorbeifahrende Polizeistreife hält an und hält mich auf, mit Bitte um eine Möglichkeit mich auszuweisen und befragt mich nach meinen Motiven, die mich um diese Uhrzeit und bei diesen Lichtverhältnissen auf einen dunkel, von den Augen der Öffentlichkeit abgeschnittenen Feldweg mit Baumbewuchs führen. Ich verliere weitere 10 Minuten und bange neben meiner Anstellung gleichsam um meine Anschlussverbindung wie mein Recht, mich in Freiheit zu bewegen.

Ich schwitze wie ein Idiot.

Ich steige in den Bus und fahre 3 Stationen um von dort aus zum Bahnhof zu laufen. Kein freier Sitzplatz und dumme, laute Mädchen um die 18 Jahre.

Ich erreiche den 7-Uhr-Zug pünktlich, aber natürlich ist kein Sitzplatz mehr frei.

Außerdem habe ich geschwitzt wie ein Idiot, was in einem derart beengten Raum nicht weniger wird. Mein Akku krebst bei 65 % herum.

In Darmstadt habe ich 15 Minuten Aufenthalt und ich nutze die Zeit, Frau und Kind beim Frühstück anzurufen. Da ich nie telefoniere und es gar verabscheue wundert sich die Partnerin nur, was los sei.

Ich sitze im nächsten Zug, Temperatur okay, auch wenn ich wie ein Idiot schwitze. Die 1,5 Liter Wasser und 1,0 Liter Kaffee haben meine Arme lang werden lassen, dabei wollte ich beides bereits zur Hälfte genüsslich neben einem Buch oder etwas 3DS spielen bis Darmstadt geleert haben.

Um Kleckereien in meiner Tasche zu vermeiden entscheide ich mich dazu, den Verschluss der Kanne abzuschrauben, um sie ihres Inhalts in den Becher zu berauben. Als Ergebnis erhalte ich einen vollgetropften Fußboden zu meinen Füßen und einen handgroßen Kaffeefleck auf meinem Knie.

Positiv: bis jetzt entdeckte ich tatsächlich keine Kleckereien in meiner Tasche.

Trotz Smarthone und Vorliebe für dessen Vorzüge bin ich genervt von der Entwicklung, dass heutzutage alle Leute permanent ein Telefon in der Hand halten, um sich zu beschäftigen. Und mir fällt auf, dass ich seitdem ich aus dem Haus gegangen bin permanent das Telefon in der Hand halte und andauernd Verbindungen checke etc., anstatt mich mit meinem Buch, der extra schnell auf die SD Karte gezogenen Musik oder gar dem 3DS zu beschäftigen.

10 Minuten vor Ankunft sehe ich aber von all dem ab, zumal auch mein Akku bei nur noch 30 % verbleibt.

Ankunft am Zielbahnhof, jetzt noch schnell den richtigen Bus erwischen, der auch gleich an Ort und Stelle auf mich wartet.

Dank der von meiner Freundin empfohlenen RMV-App steige ich in den falschen Bus und fahre 2 Stationen in die falsche Richtung, bis ich mich zu einem beherzten Hechsprung aus dem fahrenden Bus entschließe und auf eine Möglichkeit zum Umkehren hoffe.

Google Maps sagt, von X bis zum Büro sind es 4,9 km zu Fuß und man benötigt ca. 56 Minuten - keine Option.

Glücklicherweise kommt gerade ein Bus zurück zum Bahnhof. Dort angekommen steht auch gerade eine weitere Linie bereit, die mich ans Ziel zu bringen im Stande wäre. Anstatt 8:11 könnte ich doch noch gegen 8:20 Uhr ankommen - geplant war 7:41 Uhr.

Guten Mutes gelange ich doch gegen 8:25 Uhr zum Büro wo gerade einer der Geschäftsleiter vorfährt und mir eine freundliche Begrüßung, eine Führung durch die Räumlichkeiten und eine Aufgabe zuteil werden lässt.

Die nächsten 60 Minuten bekomme ich eine Einweisung in das, was ich tun soll und habe 80 % der Mitarbeiternamen so gründlich vergessen, als hätte ich sie nie gehört. Aber die Kollegen in der ersten Etage sind mir allesamt auf Anhieb symphatisch, wogegen ich den nur einen derzeit Anwesenden im Erdgeschoss doch etwas komisch finde...

Ich bekomme einen Schreibtisch im Erdgeschoss, direkt in der Nähe besagten Mitarbeiters.

Ich bin gnadenlos overdressed, trotz dezenter Klamottenwahl.

Gegen 10:45 Uhr bin ich gerade warm geworden, da klingelt das Telefon des Mitarbeiters. Nach dem Auflegen mault er rum, "JourFix um 11", was bei allen Kollegen wenig Anklang findet - sie haben viel zu tun, gar keine Zeit (im Baugewerbe ist alles grundsätzlich zu spät dran) und da passt das angesagte "JourFix" mit einer halben Stunde (vom Chef angedacht) gar nicht rein. "Wieder zwei Stunden, die uns fehlen. Kommst du mit?" - Ich weiß von nichts. - "Gut, dann nehm ich dich jetzt einfach mit. Du sollst mitleiden."

Um 11 sitzen alle Mitarbeiter zusammen im Besprechungsraum und warten auf den Chef, machen Witzchen über ihn und das Zeitmanagement, während der Chef noch vom Telefon zurückgehalten wird.

Um 11.10 Uhr sitzen alle Mitarbeiter zusammen im Besprechungsraum und warten auf den Chef, machen Witzchen über ihn und das Zeitmanagement, während der Chef noch vom Telefon zurückgehalten wird.

Um 11.15 Uhr sitzen alle Mitarbeiter zusammen im Besprechungsraum und warten auf den Chef, machen Witzchen über ihn und das Zeitmanagement, während der Chef noch vom Telefon zurückgehalten wird.

Dann geht es los und JourFix entpuppt sich als "Statusbesprechung", in welchem Projekt gerade was passiert oder warum was nicht passiert. Ich finds nicht schlimm sondern sogar interessant zu sehen, wie sehr alle in mehreren Projekten involviert sind, wo Problemchen auftreten, etc.

"Bei dem Projekt fehlt nur noch das und das." - "Gut, schiebt das nicht zu lang auf. Überlegt mal, wir haben ausnahmsweise mal die Chance hier die Pläne fertig zu haben und denen zu schicken, BEVOR die anfangen wollen zu bauen..."

"Der Ordner mit den Plänen liegt bei der Frau XY, solang die nicht da sind können wir auch nichts machen." - "Wo sitzt die denn?" - "Insbruck." - "Tja, dann, Herr Sven, fahren Sie gern Auto?!" - Gelächter und ich bin völlig überfahren.

"Wir sollten hier bei der Druckerei nochmal nach guten Konditionen fragen. Wir zahlen pro Plan 90 Ct, das ist mittlerweile echt eine Hausnummer geworden. wir haben pro Monat mehrere tausend Euro an Plottkosten. Oder aber wir haben ja auch noch einen Plotter im Keller, nächste Woche kommt noch eine Schulpraktikantin, dann kann sie sich ja mal mit Herrn Sven da einarbeiten."

Irgendwann sind tatsächlich zwei Stunden um und ich habe völlig vergessen, was ich vor der Unterbrechung eigentlich gemacht habe.

Als es auf den Feierabend geht schalte ich mein Telefon mal kurz wieder ein um mich nach Rückfahrtalternativen umzusehen, aber attraktiv ist davon keine, weil ich an den Juckelbus über die Käffer angewiesen bin, der nur stündlich fährt.

Ich trete gegen 16.10 Uhr vor die Firma und den kurzen Fußmarsch zur Bushaltestell an. Mittlerweile herrschen merklich über 20° und mir läuft die Suppe.

Die Rückfahrt wird durch dünne Umsteigzeiten dominiert, der Bus fährt gleich mit 5 Minuten Verspätung vor, was ein Erreichen des Zuges fragwürdig werden lässt. Ein Blick auf die App der DB lässt mich hoffen, die S-Bahn hat auch Verspätung.

Kein freier Platz im Zug, dabei will ich doch bloß sitzen und Ruhe.

Der Zug hat genug Verspätung um mich meinen Juckelbus verpassen zu lassen.

Das Telefon ist aus.

Den Bus um wenigstens zeitnah in Heimatnähe zu gelangen habe ich auch gerade verpasst und darf ihm wenigstens noch winken.

Ich habe brüllende Kopfschmerzen und nichts mehr zu trinken.

Ich schwitze wie ein Idiot.

Mein Magen teilt mir mit, dass er seit morgens um 5 nichts mehr bekommen hat.

Der Zweitakku mit seinen 10 % Restladung ist auch deutlich geschwächt und hält auch nur lang genug um mir mitzuteilen, dass meine Mädels mich nicht unterwegs einsammeln können. Das lese ich aber auch mit nur einem Auge, das andere zu benutzen sticht zu sehr in der Stirnpartie.

Im hinteren Teil des Busses kann ich wenigstens sitzen. Allerdings nur seitwärts, die Klimanalage ist defekt und die Scheiben haben keine Griffe mehr zum öffnen, es herrschen mindestens 28°, vermutlich eher 38°, ich habe brüllende Kopfschmerzen, mein Haar klebt mittlerweile in nassen Strähnen auf meiner Stirn und ich habe neben Hunger auch nichts mehr zu trinken.

Ein paar Reihen weiter sitzt ein dicker Mann, TROPFnasses Haar und offensichtich weder reinlich, nüchtern, noch ganz richtig im Kopf und redet die ganze Zeit, als würde er Smalltalk mit jemandem betreiben, der aber nicht da ist. "Aber des beste, des ist die gemischte Sauna." oder aber "Jaja, Landskronstraße. Wieso heißt die Haltestelle Landskronstraße? ... Jaja, weil ein Schauspieler eine Lanze trägt. Aber die Lanze hat keine Krone auf."

Ich bin wirklich nass auf dem Rücken geschwitzt, außerdem habe ich durch meine Nüchternheit und die Kopfschmerzen auch gleich eine erschreckend starke Übelkeit abgegriffen, als ich die Buslinie wechsle. DIESER Bus hat Klimaanlage, die auf gefühlte 16° gestellt ist.

Und ich ergattere einen rückwärts gerichteten Sitzplatz.

Und ich sitze direkt im Zug der Klimaanlage.

Und meine Freundin schreibt, ich solle noch ein paar Stationen weiter fahren, sie sei mit der Tochter bei einem Kommilitonen, als ich gerade fragen will an welcher Haltestelle ich dann überhaupt aussteigen muss, verlässt mich Akku Nr. 2.

Dabei will ich doch nur raus, heim, was essen und sterben...

Dort angekommen klingel ich und niemand öffnet bis mir nach 5 Minuten von einem Spazierweg die gesammelte Mannschaft fröhlich zujubelt.

Gefolgt von einem bezeichnenden Bild über die Qualität von Gesprächen zwischen zwei Frauen: Yvonne und Christinge unterhalten sich, während René daneben steht und sich intensiv mit Seifenblasen beschäftigt.

Irgendwann dann doch zuhause angekommen ist Tochterkind überdreht und will eigentlich nichts, bis auf Fernsehen.

Während Papa sich dem Abendessen widmet und sich gedanklich bereits bei der dritten Portion wähnt macht sich Mama auf den Weg zum nächsten Termin und Papas Tagtraum zerplatzt unter einem Schwall von Beschimpfungen der Tochter, die wohl wütend auf ihr Lieblingsbuch ist, das sie gerade imstande ist zu zerfleddern.



So. Und wer das nun alles geglaubt hat, dem sei gesagt, dass der Abschnitt mit der Polizei frei erfunden ist. Aber ich fand, dass es sich gut in den Rest des Tages einbürgern würde.

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